In unserem letzten Artikel vom 9. Dezember 2024 mit dem Titel „DIE NEUE EU-RICHTLINIE ZUR PRODUKTHAFTUNG BRINGT DAS GLEICHGEWICHT INS SPIEL“ haben wir die wichtigsten Änderungen des EU-Produkthaftungsrechts, die durch die Ratifizierung der EU-Richtlinie 2024/2853 eingeführt wurden, erläutert. Die Bestimmungen dieser Richtlinie sollen jedoch nicht für Produkte gelten, die vor dem 9. Dezember 2026 in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden. Bis dahin wird es sicherlich weiterhin Rechtsstreitigkeiten in diesem Bereich geben, bei denen es um die Auslegung der Bestimmungen der Vorgängerrichtlinie, der Richtlinie 85/374 des Rates, geht. Am 19. Dezember 2024 verkündete die Fünfte Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union („EuGH“) ihr Urteil zu einem Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Kassationsgerichts (Italien) vom März 2023 in dem Verfahren zwischen Ford Italia SpA (Rechtsmittelführer) einerseits und ZP und Stracciari SpA (Rechtsmittelbeklagte) andererseits (Rechtssache C-157/23) (das „Urteil“). Im Mittelpunkt dieses seit 23 Jahren andauernden Rechtsstreits steht die Frage, ob der Lieferant eines fehlerhaften Produkts, der seinen „Namen, Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen“ des Herstellers trägt, als „jede Person, die […] sich als dessen Hersteller ausgibt“, angesehen werden kann und daher gesamtschuldnerisch mit dem Hersteller für den Fehler haftet. Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung dieses Urteils.
Der Sachverhalt und die rechtliche Entwicklung des Falles lassen sich chronologisch zusammenfassen:
- Juli 2001: ZP erwirbt von dem italienischen Autohändler Stracciari ein Ford-Fahrzeug. Das Fahrzeug wurde von der deutschen Firma Ford WAG hergestellt und über Ford Italia, den italienischen Händler, an Stracciari geliefert.
- Dezember 2001: ZP erleidet einen Verkehrsunfall, bei dem der Airbag des Fahrzeugs nicht ausgelöst wird.
- Januar 2004: ZP erhebt vor dem Bezirksgericht von Bologna (Italien) Klage sowohl gegen Stracciari als auch gegen Ford Italia und verlangt Schadensersatz wegen ihrer durch den Fehler des Fahrzeugs verursachten Verletzungen. Ford Italia macht geltend, dass es als bloßer Lieferant von Ford-Fahrzeugen in Italien und nicht als deren Hersteller nicht als „Hersteller“ im Sinne von Artikel 3 der Richtlinie 85/374 (nachstehend die „Richtlinie“ genannt) angesehen werden könne und folglich keine Haftung für den fehlerhaften Airbag übernehmen könne.
- November 2012: das Bezirksgericht von Bologna stellt fest, dass Ford Italia aufgrund des Herstellungsfehlers des Fahrzeugs außervertraglich haftet. Ford Italia legt gegen diese Entscheidung Berufung beim Berufungsgericht von Bologna ein.
- Dezember 2018: das Rechtsmittel von Ford Italia wird mit der Begründung zurückgewiesen, dass Ford Italia keine Haftungsbefreiung gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie über die Gleichstellung von Lieferant und Hersteller im Falle der Nichtermittlung des letzteren beanspruchen könne, da Ford Italia den Hersteller (Ford WAG) nicht in das Verfahren einbezogen habe. Ford Italia legt Berufung beim Obersten Kassationsgerichtshof Italiens ein.
In seiner Analyse stellte der Oberste Kassationsgerichtshof die genaue Bedeutung des Ausdrucks „ihren Namen […] auf dem Produkt anbringt“ in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie in Frage. In Anbetracht dieser Unklarheit beschloss der Gerichtshof, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Muss die Haftung des Herstellers nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie auf den Lieferanten ausgedehnt werden, wenn der Lieferant eines fehlerhaften Produkts den Namen, die Marke oder das Unterscheidungszeichen des Herstellers ganz oder teilweise übernimmt, obwohl er dieses Zeichen nicht physisch auf dem Produkt angebracht hat?
Der rechtliche Hintergrund der Rechtssache stellt sich, wie im Urteil dargelegt, wie folgt dar:
- Artikel 3 der Richtlinie gibt an, welche Akteure in der Produktionskette eines fehlerhaften Produkts haftbar gemacht werden können (Abs. 33).
- Artikel 3 Absatz 1 sieht vor, dass derjenige, der sich als Hersteller des fehlerhaften Produkts „ausgibt“, indem er „[seinen] Namen, [sein] Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen“ darauf anbringt, für die Zwecke der Haftungsverteilung auch als Hersteller des fehlerhaften Produkts haftbar gemacht werden kann (Absätze 34-35). Mit anderen Worten, es ist nicht erforderlich, am Herstellungsprozess eines Produkts beteiligt zu sein, um für dessen Fehlerhaftigkeit haftbar gemacht zu werden.
- Derjenige, der „[seinen] Namen, [sein] Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen“ auf dem fehlerhaften Produkt anbringt, erweckt den Eindruck, dass er am Herstellungsprozess beteiligt ist oder zumindest die Verantwortung dafür übernimmt, und nutzt somit seinen Ruf aus, um das Produkt in den Augen der Verbraucher attraktiver zu machen (Abs. 37).
- Die entscheidende Unklarheit, die der italienische Kassationsgerichtshof aufgeworfen hat, ist die Frage, ob die Tatsache, dass eine solche Kennzeichnung mit der des Herstellers übereinstimmt, ohne dass sie vom Lieferanten aktiv auf dem fehlerhaften Produkt angebracht wurde, ausreicht, um den Lieferanten als eine Person zu qualifizieren, die sich als dessen Hersteller „ausgibt“ (Abs. 38). Kurz gesagt: bedeutet der Wortlaut von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie, daß der Lieferant aktiv Maßnahmen ergreifen muß, um sich als Hersteller des fehlerhaften Produkts auszugeben, indem er sein Warenzeichen darauf anbringt?
Die Schlussfolgerungen des EuGH lauten wie folgt:
- Es macht keinen Unterschied, ob der Hersteller aktiv „[seinen] Namen, [sein] Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen“ auf dem fraglichen fehlerhaften Produkt angebracht hat oder ob eine bloße Übereinstimmung mit der Marke des Herstellers besteht. In beiden Fällen nutzt der Lieferant diese Markenähnlichkeit als Garantie für die Qualität des Produkts in den Augen des Verbrauchers, so als hätte der Verbraucher das Produkt direkt beim Hersteller gekauft (Abs. 41).
- Bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts sind ihr Kontext und ihr Zweck ebenso wichtig wie ihr Wortlaut (Cafpi und Aviva Assurances, C-691/21, Abs. 37). Artikel 5 der Richtlinie in Verbindung mit den Erläuterungen IV und V macht deutlich, dass der EU-Gesetzgeber den Begriff „Hersteller“ im Interesse des Verbraucherschutzes bewusst weit gefasst hat (Absätze 42-43).
- Nach Artikel 5 der Richtlinie unterscheidet sich die Haftung einer Person, die als „Hersteller“ im Sinne der Richtlinie gilt, nicht von der Haftung des „tatsächlichen“ Herstellers des fehlerhaften Produkts; da die Haftung gesamtschuldnerisch ist, kann der geschädigte Verbraucher nach seiner Wahl von beiden den vollen Schadensersatz verlangen (Abs. 44).
Letztlich ist die Schlussfolgerung dieses langjährigen Rechtsstreits relativ einfach: der Verbraucher wäre nicht ausreichend geschützt, wenn der Lieferant ihn auf den Hersteller „verweisen“ könnte, um seine eigene Haftung zu umgehen. Daher kann sich die Formulierung in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie nicht ausschließlich auf die Person beziehen, die ihre Marke physisch auf dem fehlerhaften Produkt angebracht hat; eine solche restriktive Auslegung würde die Definition des „Herstellers“ unangemessen einschränken und den Verbraucherschutz beeinträchtigen. Er muß notwendigerweise jeden Lieferanten einschließen, der ebenfalls eine Marke trägt, die der des Herstellers – ganz oder teilweise – ähnlich ist.
Sebastian Ricks
Vilá Abogados
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17. Januar 2025