Der Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt ist in den letzten Jahrzehnten zu einer Angelegenheit erster Ordnung in der Europäischen Union geworden. Ein Beweis dafür ist die ständige Bemühung der Kommission, als wettbewerbswidrig eingestufte Verhaltensweisen zu verfolgen und zu sanktionieren. Eine der Praktiken, die das normale Funktionieren des Marktes verändern könnten, ist die Fusion von Unternehmen (zu diesem Thema siehe unseren vorherigen Artikel). Die Generalanwältin des Gerichtshofs der Europäischen Union („EuGH“) Juliane Kokott hat diese Annahme in ihren Schlussanträgen, die dem EuGH am 13. Oktober in der Rechtssache Towercast (Rechtssache C-449/21) vorgelegt wurden, entschieden vom EuGH entschieden werden.

Der Fall begann mit der Einreichung einer Berufung im November 2017 durch den französischen Fernsehbetreiber Towercast S.A.S.U. („Towercast“) gegen die Entscheidung der französischen Wettbewerbsbehörde, die Klage gegen ihren Konkurrenten, die Firma TDF Infrastructure Holding S.A.S. („TDF“), aufgrund des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung beim Erwerb des Unternehmens Itas S.A.S. Für Towercast bedeutet die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Übernahme nur diese drei Unternehmen auf dem französischen Markt für digitale terrestrische Fernsehübertragung tätig waren und TDF einen deutlich höheren Marktanteil als seine Wettbewerber hatte, dass die Übernahme einen Missbrauch von a darstellt beherrschende Stellung von TDF. Die Übernahme fiel jedoch unter die in Artikel 1 der Zusammenschlussverordnung („ZV„) und der französischen Regulierung festgelegten Umsatzschwellenwerte, so dass die Transaktion keiner vorherigen Kontrolle durch die Kommission oder die französische Wettbewerbsbehörde unterlag.

Der Fall erreichte das Appellationsgericht Paris und legte dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: Kann eine nationale Wettbewerbsbehörde erklären, dass ein Zusammenschluss, der keiner Ex-ante-Kontrolle unterzogen wurde, weil er die Schwellenwerte, die in der ZV und den nationalen Vorschriften festgelegt sind, einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung gemäß Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union („AEUV“) darstellen?

Für die französische Wettbewerbsbehörde sollten Zusammenschlüsse ausschließlich durch die ZV und Praktiken, die einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellen könnten, durch Artikel 102 AEUV geprüft werden. Die Bundesanwaltschaft lehnt diese Vorgehensweise aus folgenden Gründen ab:

(i) Artikel 102 AEUV ist eine Vorschrift des Primärrechts und als solche direkt anwendbar und den Vorschriften des Sekundärrechts, wie z. B. ZV, hierarchisch übergeordnet. Folglich kann eine Vorschrift wie die ZV die unmittelbare Anwendbarkeit des AEUV nicht einschränken oder ausschließen.

(ii) Die in Artikel 1 ZV festgelegten Schwellenwerte sind einfache iuris-tantum-Vermutungen, die es ermöglichen, diejenigen Zusammenschlüsse zu identifizieren, bei denen der Verdacht besteht, dass sie den Wettbewerb im Binnenmarkt behindern könnten. Daher handelt es sich um bloße Anhaltspunkte, sodass nichts dagegen spricht, dass ein Zusammenschluss, der diese Schwellenwerte nicht überschreitet, nach Artikel 102 AEUV wettbewerbswidrig ist.

(iii) Artikel 102 AEUV muss als ergänzender Kontrollmechanismus zur ZV ausgelegt werden, da er die Prüfung von Zusammenschlüssen ermöglicht, die nicht angemeldet wurden, weil sie einen Umsatz unterhalb der im nationalen Recht und der CR festgelegten Schwellenwerte darstellen. In diesem Sinne ist der General Anwalt der Ansicht, dass in den letzten Jahren Lücken im Zusammenschlusskontrollsystem aufgetreten sind, was die Annahme eines stärker transversalen Ansatzes bei der Analyse dieser Vorgänge rechtfertigt. Da nur solche Konzentrationen, die ein bestimmtes Geschäftsvolumen überschreiten, vor ihrem Vollzug einer Kontrolle unterliegen, droht der Erwerb von Start-ups mit geringem Umsatzniveau, aber großem Entwicklungspotenzial durch in der Branche etablierte Unternehmen vom Schutzbereich des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Dies würde es Unternehmen mit einem höheren Marktanteil ermöglichen, aufstrebende Unternehmen als potenzielle Wettbewerber zu deaktivieren und so ihre Position im Markt zu stärken.

Für den Generalanwalt ist es daher durchaus möglich, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Zusammenschluss kontrolliert, der weder von gemeinschaftlichem Interesse ist noch die vorab zu prüfenden Schwellenwerte des nationalen Rechts erreicht. Andererseits kann ein Zusammenschluss, der bereits von der nationalen Wettbewerbsbehörde oder der Kommission kontrolliert und für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wurde, nachträglich nicht als Missbrauch einer beherrschenden Stellung nach Artikel 102 AEUV eingestuft werden.

Nach Vorlage des nicht bindenden Gutachtens des Generalanwalts liegt es nun am EuGH, über eine Frage zu entscheiden, die sicherlich erhebliche Auswirkungen auf die Art und Weise haben wird, wie Zusammenschlüsse von nun an kontrolliert werden.

 

 

Joan Lluis Rubio

Vilá Abogados

 

Für weitere Informationen kontaktieren:

va@vila.es

 

28. Oktober 2022